Sifu Andreas Hagedorn 1999
Im Lexikon steht unter “Kung Fu/Gongfu” (chin.), wörtlich: >harte Arbeit< sinngemäß: Zeit, Mühe oder Kraft, die zum Erlernen einer besonderen Fähigkeit eingesetzt wird. Kung Fu ist auch ein Oberbegriff für die chinesischen Kampfkünste. Viele Kung Fu- Stile/Systeme haben tiefe Verwurzelungen in den verschiedensten Lehren. Beispielsweise mit dem Konfuzianismus, Taoismus oder Buddhismus, welche ihre Ursprünge alle in den asiatischen Kulturen/Regionen haben. Betrachten wir diese umfangreichen, unterschiedlichen, kulturellen sowie traditionellen Philosophien, können wir Parallelen zur Kampfkunst erkennen. In den verschiedensten Kung Fu Systemen/Stilen, hat der philosophische Begriff Yin/Yang eine besonders große Bedeutung. Die Yin/Yang- Philosophie (2852 v. Chr.) ist sehr alt. Im Grunde bringt jegliche Art der Kampfkunst seine Philosophie und Inspiration in sich mit. Die Kunst ist es zu verstehen was der ursprüngliche Sinn der Kampfkunst ist, was gibt sie einem und was ist man bereit zu geben? Rein äußerlich betrachtet gibt sie Stärke, Verteidigungsfähigkeit, Fitness… doch die Wurzeln jeglicher Kampfkunstsysteme liegen in der inneren Ausgeglichenheit, Gelassenheit, Menschlichkeit… welche wiederum untrennbar verschmolzen sind mit der Körperbeherrschung. Ruhe, Selbst- Bewusstsein/ Beherrschung erlangt man also durch die Selbsterkenntnis, welche die Beschäftigung mit seinem Körper und Geist mit sich bringt. Eine Persönlichkeitsentwicklung tritt somit parallel zur Körperbeherrschung ein. Die verschiedensten Philosophien vermitteln Werte, welche wir bei der Lehre der Kampfkunst berücksichtigen und übernehmen können. Dies heißt nicht, das jeder Kung Fu Schüler (chin. Todai) ein gläubiger Konfuzianist, Taoist, Buddhist… werden muss. Es bedeutet, dass wir in diesen Philosophien die Bausteine für einen individuellen Kampfkunstweg finden können. Ob dies gelingt, ist abhängig von unserem Selbst, unserem Charakter und von dem Fleiß bei der >harten Arbeit<. Jeder Mensch ist ein Individuum, daher gibt es viele Wege der Kampfkunst (viele Wege führen nach Rom). Wenn wir den Legenden über die Entstehung unseres Wing Tzun Kung Fu- Stils glauben schenken und Yin/Yang als Philosophie dabei berücksichtigen, finden wir Einfluss durch den Buddhismus. Die Begründerin des Wing Tzun Stils “Ng Mui”, war demnach eine buddhistische Nonne und Meisterin des Shaolin Kung Fu- Stils. Sie verkörperte also die Vereinigung von Geist (Buddhismus, Religion) und Körper (Kung Fu, Körperbeherrschung).
Beschreibungen, aus einem Lexikon von 1979:
“Buddhismus” die von Buddha gestiftete Weltreligion, die zunächst als Mönchs- und Nonnenreligion begründet wurde, der jedoch auch Laienanhänger in loserer Verbindung mit dem Orden angehören konnten.
Um einen tieferen Einblick in diese Weltreligion zu erhalten, sollte man sich durch die entsprechenden Fachbücher arbeiten, da es den Rahmen der Textzeilen sprengen würde.
Einleitungszitat des Dalai Lama aus dem Buch; Der Weg zur Freiheit
“Die Lehren des Buddhismus anzuwenden bedeutet, einen Kampf zwischen den negativen und positiven Kräften im eigenen Geist zu führen.”
Yin und Yang sind Gegensätzlichkeiten welche ohneeinander nicht existieren können. So finden neben jeder funktionierenden körperlichen Erfahrungs-Sammlung auch die geistige/menschliche Erfahrungen statt. Diese Erkenntnis finden wir auf beiden Seiten. So steht im Tengu-geijutsu-ron ( altjapanische Schrift zur Schwertkunst aus dem frühen 18. Jahrhundert ) als erste der wichtigsten Thesen:
Vollendete Schwertkunst besteht aus zwei Komponenten: technischer Sicherheit und geistiger Erkenntnis. Beide müssen eine Einheit bilden, sie sind unabdingbar voneinander abhängig.
Über Taoismus steht im Lexikon:
“Taoismus/Daoismus” (chin.), ein aus der Lehre des Lao-tze erwachsenes philosophisches- System welches die übergeordnete Gesetzmäßigkeit des Universums lehrt.
Die Chinesen haben ein Symbol/Zeichen zum Verständnis erfunden, welches durch seine graphische Darstellung, simpel das ganze Lebensgesetz zeigen soll.
Die graphische Darstellung des Yin/Yang- Symbols wird meist in der Position re. schwarz. u. li. weiß dargestellt.
Im Grunde kann Alles in Yin- Yang verstanden werden. So können wir die Kampfkunst als Pfad der körperlichen Perfektion verstehen, dessen Weg fließend über das Verstehen zur Geistigen Bereicherung führt.
Sicherlich ziehen die asiatischen Kulturen, Traditionen oder Religionen ihren roten Faden durch unsere Kampfkünste, doch kann der Einfluss der Lehrer/Si-Hing´s/Si-Fu´s vor Ort eine Menge für oder gegen das Verständnis beitragen. Wer eine Kampfkunst ausübt und diese unterrichtet, beeinflusst einen Teil des Gesamten. Auch Schüller/innen die auf die Lehre ihres Meisters vertrauen, werden diese bewusst und auch unbewusst an ihre Umgebung weitergeben. Somit ist jeder für die positiven und negativen Einflüsse der Kampfkünste mitverantwortlich. Man kann also die inneren Werte der Kampfkunst heutzutage keineswegs nur auf asiatische Kulturen zurück führen. Wing Tzun wird beispielsweise weltweit gelehrt, wobei jeder Lehrer dem System durch seine Individualität, eine innere und äußere aufbauende aber auch minderwertige Veränderung zufügen kann. Diese Tatsache festigt die Aussage, dass es sich bei Wing Tzun um ein “lebendes System” handelt. Wenn die Prinzipien unverändert bleiben, kann praxisbezogene Kreativität jedem von Nutzen sein, sofern er gewillt ist unvoreingenommen und eifrig zu trainieren.
Die philosophischen Einsichten aus unabhängigen fachkompetenten Quellen lassen erahnen, dass der Weg der Kampfkunst wahrlich weit mehr vermittelt als bloßes Körpertraining für den Zweikampf. Wichtig für das Verständnis ist in jedem Fall, die Ehrlichkeit seinem eigenen Selbst gegenüber. Das erkennen von unfertigen praktischen Können, Fehlverhalten und falschen Sichtweisen ist also besonders bedeutend. Auch ist kritische, wohlüberlegte Nachfrage vor Annahme der Lehre angebracht, um nicht ungefragt Dinge, welche nicht verstanden wurden zu akzeptieren. Es liegen allerdings Welten zwischen dem Verstehen und dem Vermitteln, denn ein so komplexer Weg der Weiterentwicklung ist leider mit einfachen Worten meist nicht zu erklären. So kann man Dinge auffassen ohne sie jemals mit Worten beschreiben zu können.
Aus Asien kommen wichtige traditionelle Werte, doch sind viele Asiaten für unser Verständnis “zu höflich”. So wurde unser verstorbener chinesischer Großmeister Yip Man beispielsweise als “Yes man” bezeichnet. Nicht etwa weil er keine eigene Meinung hatte, wohl aber wegen seiner Höflichkeit. In China gehört es sich nicht, jemand anderen zu kritisieren, so antwortete Si-Gung Yip Man wahrscheinlich auf die folgende Frage eines Schülers: “Ist es so besser?” – “Ja schon viel besser, aber ich würde es so tun!”. Wenn dann ein Schüler diesen Rat nicht erkannte um seine Technik zu verbessern, behielt er seine Fehlerhaftigkeit. Bei uns würde der Si-Hing dem Schüler z.B. direkt sagen: “Du solltest deinen Arm weiter nach vorn bringen, um den richtigen Winkel einzuhalten!” Dies ist für unsere Einstellung durchaus Höflich und erforderlich, denn die Schüler erwarten eine Korrektur durch ihren Lehrer.
Das ein großer Unterschied zwischen der westlichen gegenüber der östlichen Art zu lehren besteht, zeigt auch folgender Auszug über die Lehre des Zen Buddhismus:
3.2. Umwandlung des Zen für den Westen: Jiu Kenntt Roshi
“Das Zen des Westens muss von westlichen Priestern in westlichen Ländern geboren werden und darf nicht von Japanern ausgebreitet werden, die nichts von westlicher Art und Sitten verstehen.” ( Prebish S. 160 )
Wenn wir nun wieder Vergleiche suchen zwischen Wing Tzun Kung-Fu und dem Zen Buddhismus, so ist unser Kampfkunstsystem im Westen ( bei uns ) auch erst mit den ersten westlichen Wing Chun/Wing Tsun/Wing Tzun – Schulen hier geboren worden. Wobei der Begriff “geboren” nicht treffender für ein “lebendes Kampfkunstsystem” sein kann. Nach der Geburt kamen die Kinderkrankheiten, welche die Entwicklung beeinflussten, so wuchs das System Jahr für Jahr und wurde älter und erfahrenen.
Heute ist unser Wing Tzun Kung-Fu trotz asiatischen Ursprungs unser westlichen Kultur angepasst. Hierbei sollte man offen sein, für die inneren Werte und Ursprünge, welche auf eigene individuelle Art verarbeitet werden können. Wer ehrlich, aufgeschlossen und ehrgeizig sein Kampfkunsttraining ausübt, ist auf dem richtigen Weg und wird früher oder später den waren Sinn der Kampfkunst verstehen. Der Weg des Kung Fu- Trainings ist eine wertvolle Beschäftigung, denn was könnte einem wertvoller sein, als der eigene Körper und Geist?