Im Zeichen des Sifu
Assistent Dirk

Dirk Wing Tzun AssistentWU-SAO Assistenten- Arbeit
„Im Zeichen des Sifu“
Arbeit zur Wing Tzun- Assistenztrainerprüfung
von Dirk Hottmann, 4. Schülergrad
Bremen Dez. 2015

 

Mein Weg zum Wing Tzun

Als ich vor zwei Jahren nach Bremen zog, hatte ich zunächst einmal nichts als meinen neuen Job. Die Arbeit machte Spaß, aus Kollegen wurden im Laufe der Zeit Freunde, und wir gründeten unter anderem eine Band. Doch bald schon merkte ich, dass es auch ein Leben neben der Arbeit geben musste. Ich suchte einen sportlichen und gleichzeitig auch sozialen Ausgleich, um einerseits über die Bewegung etwas für meine Gesundheit zu tun, und andererseits neue Leute kennen zu lernen. Ich suchte ferner nach einem Weg, um meine überschüssigen Energien (vernünftig) zu kanalisieren; nicht wie früher über sinnlose Raufereien, bei denen alle Beteiligten nur verlieren konnten. Etwas, um das Leben, das erstens anders kommt, und zweitens als man denkt, auch vom Kopf her besser meistern zu können. Kurzum, es musste irgendwie weiter gehen.
Als Kind hatten mich schon immer Kung Fu-Filme fasziniert. Darüber hinaus interessierte ich mich für fernöstliche Kulturen wie China, Japan und Indien sowie für die zugehörigen Religionen, Philosophien und Lebensstile wie Buddhismus, Taoismus oder Zen einschließlich der von dort stammenden körperlichen und mentalen Techniken bzw. Praktiken wie Chi Kung oder Tai Chi.
Es sollte dann letztlich eine fernöstliche Kampfdisziplin werden: Meine Wahl fiel auf die Selbst-verteidigung und Kampfkunst Wing Tzun, einen aus China stammenden Kung Fu-Stil, der vor etwa 300 Jahren von einer Nonne und Shaolin-Kung Fu-Meisterin des legendären buddhistischen Shaolin-Klosters und ihrer Schülerin „Wing Tzun“ (chinesisch für „schöner / immerwährender Frühling“) entwickelt und weitergetragen wurde [1].
So nahm ich im September des vergangenen Jahres an einem Probetraining in der Wing Tzun-Kampfkunstschule „WU-SAO“ von Sifu Andreas Hagedorn in Bremen teil (die Abbildung links oben zeigt das Logo der Schule [2]). Die Trainingseinheit dauerte anderthalb Stunden, aber schon nach den ersten Minuten, in denen wir gemeinsam die erste Form dieser Kampfkunst machten, wusste ich, dass ich Wing Tzun weiter machen würde.
Es war auch der waffenlose Kampf, der mich dabei angesprochen hat. Einerseits aufgrund der dafür notwendigen hohen Körperbeherrschung und -disziplin, andererseits aber auch aus Gründen der „Fairness“ bzw. Chancengleichheit, dass nämlich die Kung Fu-Gegner den Kampf ausschließlich mit ihren jeweiligen antrainierten eigenen (Körper-)Fähigkeiten – ganz ohne Hilfsmittel in Form von Waffen oder Ähnlichem – bestreiten, was deutlich realitätsnäher ist, zumal einem die eventuell im Training benutzten Waffen wie Langstock oder Doppelmesser in Situationen einer realen körperlichen Auseinandersetzung in der Regel nicht zur Verfügung stehen. Demgegenüber wird man im Wing Tzun auf eine waffenlose Verteidigung auch gegen Angreifer mit Waffen geschult.
Wing Tzun Kung Fu ist kein Kampfsport, sondern eine Kampfkunst. Diese Begriffsdefinition dient in erster Linie der Verdeutlichung bzw. Abgrenzung, dass es im Wing Tzun im Gegensatz zu Kampfsportarten wie Jiu Jitsu, Judo oder Karate (Budo) keine Wettkampfregeln und Turniere gibt, da es sich in erster Linie um eine direkte, effektive und konsequente Selbstverteidigung handelt. Und wer einem erfahrenen Wing Tzun-Kämpfer schon einmal beim Kampf zugesehen hat, weiß, dass Wing Tzun tatsächlich einer Kunst gleichkommen kann, da die Bewegungen in einem solchen Stadium nicht nur schnell, direkt und präzise, sondern auch harmonisch, fließend und höchst koordiniert ablaufen, woran sich wiederum Schnittstellen zu anderen Disziplinen wie Tai Chi oder Chi Kung erkennen lassen.
Der Weg ist bekanntermaßen das Ziel, und so wollte ich ebendiesen Weg gehen, um neben dem Körper auch den Geist zu trainieren und so ein stückweit Selbstdisziplin, Körperbewusstsein, Geduld und Ausdauer zu erlernen, denn manchmal ist der größte Feind eben nicht der Gegner auf der Straße…
Die Wing Tzun-Kampfkunstschule WU-SAO
Als ich das erste Mal am Wing Tzun-Training teilnahm, wurde ich sehr nett empfangen und bei den einzelnen Übungen alleine oder gemeinsam mit anderen Trainierenden vom Sifu (chin. für „Meister“), von Mitgliedern des WU-SAO-Teams (Wu-Sao; chin. für „schützende Hand“, im Folgenden: „Arm“, da für die Ausübung der Techniken stets der gesamte Arm bewegt wird) oder von anderen Schülern ausführlich angeleitet. Es geht im Dojo (japanisch: „Ort des Weges“), der Trainingshalle, diszipliniert, aber dennoch sehr freundschaftlich zu. Der lockere und ungezwungene Umgang miteinander trägt dazu bei, dass die Sache nicht zu einem Leistungsdruck verkommt, sondern immer noch der Spaß bzw. die Freude am Wing Tzun im Vordergrund steht.
Gut fand ich neben der Verbandsfreiheit der Schule (rechts oben auf Seite 1 das Logo der „Kooperation verbandsfreier Kampfkünste“ [2]) auch das große Angebot an Trainingsmöglich-keiten, die über das klassische Wing Tzun hinausgehen. So finden sich im aktuellen Trainingsplan neben Wing Tzun noch Brazilian Jiu Jitsu (BJJ), Escrima (Stockkampf), Sparring und Power Fitness. Darüber hinaus sind die Wing Tzun-Übungsgruppen nach verschiedenen Altersklassen unterteilt, so dass es neben der Erwachsenen- noch mehrere Jugend-Gruppen gibt. Die Vielfalt des Unterrichtsangebots findet seinen Ausdruck auch darin, dass neben Sifu Andreas und seinem WU-SAO-Team auch noch weitere Ausbilder – Karo Babaian sowie einmal im Monat Andy Voss von der „Fight Fabrik Bremerhaven“ – für BJJ und Sparring in Bremen vertreten sind. Schließlich bietet die Schule auch eine Trainingseinheit für Menschen mit und ohne Handicap an. Wing Tzun Kung Fu ist somit – unabhängig von Alter, Geschlecht, Kraft bzw. Körperbeschaffenheit, Größe oder einer eventuellen Behinderung – für jeden geeignet.
Was von Anfang an schön war, ist der Respekt, den man sich zu Beginn sowie am Ende einer jeden Trainingseinheit entgegenbringt. Dies geschieht durch die fernöstliche Tradition der gegenseitigen Verneigung sämtlicher Unterrichtsteilnehmer voreinander; einerseits der Schüler und andererseits des Sifus bzw. des jeweiligen Übungsleiters. Während dieser Verbeugung werden die Hände zum unten abgebildeten Yin-Yang-Symbol (chin.: Tai Chi Tu, dt.: „Symbol des sehr großen Äußer-sten / Höchsten“ [3]) geformt, indem die rechte Hand geschlossen wird, und die offene linke Hand die rechte Faust umfasst. Diese Geste symbolisiert das aus dem chinesischen Taoismus stammende philosophische Prinzip, dass das Weiche (Yin, symbolisiert durch die offene linke Hand) das Harte (Yang, symbolisiert durch die rechte Faust) umschließt und letztlich auch besiegt [4].
Die Grundstufe des Wing Tzun
Im Wing Tzun gibt es insgesamt zwölf Schülergrade (SG), von denen die Grade 1 bis 4 der Grundstufe, die Grade 5 bis 8 der Kernstufe und die Grade 9 bis 12 der Oberstufe zugeordnet sind, wobei diesen Graduierungen wiederum verschiedene Farben zugewiesen sind. In diesem Abschnitt sollen nun die Inhalte der ersten vier Schülergrade des Basisprogramms, die für die Prüfung zum Assistenztrainer von Bedeutung sind, in ihren wesentlichen Grundzügen vorgestellt werden.
Für die Absolvierung der kompletten Basisstufe sind neben dem Beherrschen der Wing Tzun-Anwendungen aus dem Unterricht einerseits die beiden ersten Formen des Wing Tzun, die Siu-Nim-Tao und die Chum-Kiu, sowie andererseits das zugehörige Programm, das sogenannte Dan-Chi, in seinen gradunterschiedlichen Ausprägungen relevant. In den ersten beiden Schülergraden wird die erste Form, die Siu-Nim-Tao, erlernt, während für die Grade 3 und 4 die zweite Form, die Chum-Kiu, Unterrichtsgegenstand ist. Parallel dazu bestehen für die einzelnen Schülergrade individuelle Programme, die das Üben der unterschiedlichen Dan-Chi-Sektionen mit und ohne Schrittarbeit vorsehen. Die beiden genannten klassischen Wing Tzun-Formen sowie das Dan-Chi werden ebenso wie Theorie und Anwendungen in den nachfolgenden Kapiteln noch näher aus-geführt. Im Folgenden seien die einzelnen Schülergrade der Wing Tzun-Grundstufe mit ihren je-weiligen Trainings- und Prüfungsinhalten bezüglich Form und Programm noch einmal zusammen-gefasst dargestellt:
1. Schülergrad (Farbe: weiß)
 Form: Siu-Nim-Tao: Sätze 1 – 4
 Programm: Dan-Chi 1. SG ohne Schrittarbeit
2. Schülergrad (Farbe: grün)
 Form: Siu-Nim-Tao: Sätze 1 – 8 (komplett)
 Programm: Dan-Chi 2. SG ohne Schrittarbeit
3. Schülergrad (Farbe: grün)
 Form: Chum-Kiu: Sätze 1 – 3
 Programm: Dan-Chi 2. SG (s. o.) mit Schrittarbeit
4. Schülergrad (Farbe: gelb)
 Form: Chum-Kiu: Sätze 1 – 6 (komplett)
 Programm: Dan-Chi 4. SG mit Schrittarbeit
Die Grundstellung des Wing Tzun: IRAS
Bevor die Formen, die Programme, die Theorie und die Anwendungen der Basisstufe erläutert werden, soll in diesem Abschnitt zunächst auf die Grundstellung des Wing Tzun eingegangen werden, da dem richtigen Stand insbesondere im Wing Tzun eine wichtige Bedeutung zukommt. Diese spezielle Körperhaltung wird als IRAS bezeichnet, was die Abkürzung für den englischen Begriff „Internally Rotated Adduction Stance“ ist [5]. Ins Deutsche übersetzt bedeutet dies soviel wie „nach innen gedrehter Adduktorenstand“. Der korrekt ausgeführte IRAS verleiht Gleich-gewicht, (Stand-)Sicherheit und eine gewisse Erdung (Wurzelung), und ist somit die statische Grundvoraussetzung und generelle Ausgangsposition für die Ausführung sämtlicher Formen, Programme und Anwendungen des Wing Tzun in Theorie und Praxis.
Durch diese symmetrische Standposition wird zum einen der Schwerpunkt des Körpers gesenkt und zum anderen dessen Stabilität erhöht, was vor allem durch das Beugen der Knie erreicht wird. Wesentlich ist während dieser Haltung zudem die zwischen beiden Knien aufgebaute Spannung, als wenn man zwischen bzw. mit ihnen einen Ball festhielte. Die Füße bilden dabei die Seiten eines gedachten Dreiecks und sind ebenso wie die aufeinander zu gedrückten Knie nach innen gedreht. Diese Fußstellung wird erreicht, indem ausgehend von den gerade nebeneinander stehenden Füßen zunächst die Hacken belastet und die Fußspitzen nach außen gedreht werden; anschließend werden die Zehen belastet und die Hacken nach außen gedreht.
Die Hüfte ist etwas nach vorne geschoben, was dem Stand zusätzliche Stabilität verleiht; Kopf und Rumpf sind aufrecht und entspannt; die Hände befinden sich an angewinkelten Armen zu Fäusten geschlossen neben der Brust. Aus dem IRAS heraus können nun sämtliche Bewegungen und Techniken mit den Armen und / oder Beinen ausgeführt werden. Ebenso dient der Adduktorenstand wie bereits angeführt nicht nur als Ausgangspunkt für die verschiedenen Wing Tzun-Formen und -Programme, sondern auch für die allgemeine, die eigene Zentrallinie schützende Grundposition Man-Sao / Wu-Sao (chin. für „suchender Arm / schützender Arm“) sowie für die Schritt- und / oder Trittarbeit einschließlich Wendungen. Das folgende, dazu passende Zitat verdeutlicht abschließend die große Bedeutung eines guten Standes [6]:
„Bevor du lernen kannst, andere zu besiegen, musst du erst einmal lernen, gut zu stehen.“
(aus China)
Die erste Form des Wing Tzun: Siu-Nim-Tao
Die erste Form des Wing Tzun, die Siu-Nim-Tao, bedeutet übersetzt die „kleine Idee“, hat aber eine große Bedeutung, da sie die fundamentalen (Arm-)Techniken beinhaltet und somit die Grundlage des Wing Tzun-Systems bzw. für alle weiteren Techniken darstellt. Sie wird aus dem oben beschriebenen IRAS-Stand heraus ausgeführt. Da man in einer Disziplin immer nur so gut ist, wie man auch in den Grundlagen ist, ist das Erlernen und regelmäßige Praktizieren der Siu-Nim-Tao vor allem für den Anfänger des Kung Fu (dt.: „harte Arbeit“) von hoher Wichtigkeit. In einer Abfolge von insgesamt acht Abschnitten, den sogenannten Sätzen, erlernt der Schüler sequentiell die grund-legenden Handtechniken dieser Kampfkunst. Dabei sind die Bewegungen auf den Oberkörper konzentriert; die konstante Stellung im IRAS bleibt über die komplette Form hinweg bestehen. Die insbesondere den Anfänger an eine gymnastische Übung erinnernde Siu-Nim-Tao sieht keine Schritt- oder Trittarbeit vor. Dem unbewegten, aber infolge der Grundstellung dennoch angespann-ten Unterkörper (s. o.) kommt somit die Funktion eines ruhenden, stabilen Fundaments zu.
Charakteristisch ist weiterhin das Ausüben der meisten Formbewegungen auf oder in Richtung der imaginären Zentrallinie (s. o.), auf der es im Kampf in der Man-Sao- / Wu-Sao-Position die lebenswichtigen Organe zu schützen gilt, sowie die Symmetrie: Sätze der Siu-Nim-Tao, die nicht mit beiden Armen gleichzeitig und somit symmetrisch durchgeführt werden, werden zunächst stets mit der linken und danach mit der rechten Hand ausgeführt.
Die zweite Form des Wing Tzun: Chum-Kiu
Die zweite Form des Wing Tzun ist die Chum-Kiu (chin. für „die Brücke suchen“), die ebenso wie die Siu-Nim-Tao konzentriert aus der zentralen IRAS-Stellung (s. o.) heraus ausgeführt wird. Der wesentliche Unterschied zur vorstehend beschriebenen ersten Form liegt neben der Vermittlung fortgeschrittener Armtechniken und Bewegungsabläufe in der Schritt- und Trittarbeit einschließ-lich Wendungen in insgesamt sechs Sätzen. Dabei sind bis zum dritten Formsatz der Chum-Kiu nur Wendungen, also das Drehen des Standes, enthalten (relevant für den 3. SG); die nachfolgenden Sätze sehen dann zusätzlich weiterführende Schritt- und Trittarbeit vor (4. SG). Die Bewegungen sind bei dieser zweiten Form deutlich dynamischer, da hier der gesamte Körper betroffen ist bzw. beansprucht wird. Gemeinsamkeiten zur „Kleinen Idee“ finden sich insbesondere in den zwei ersten Sätzen, die in beiden Formen sehr ähnlich verlaufen. Da die Chum-Kiu in Bewegung ausgeführt wird, besteht die primäre Herausforderung beim Praktizieren dieser Form einerseits in der richtigen eigenen Ausrichtung (Zentrallinie) auch bei Wendungen / Drehungen, sowie andererseits in der Koordination von gleichzeitig auszuführenden Arm- und Beintechniken.
Das Programm der Wing Tzun-Grundstufe: Dan-Chi
Das Basisprogramm der Grundstufe umfasst neben den beiden vorgestellten Wing Tzun-Formen ferner das sogenannte Dan-Chi, das als einarmig ausgeführtes Chi-Sao (chin. für „klebende Arme“) als spezielle Vorbereitung zu diesem fungiert. Das beidarmig praktizierte Chi-Sao selbst kann als das Herzstück des Wing Tzun Kung Fu angesehen werden und ist Hauptbestandteil des Kernpro-gramms der folgenden Mittelstufe. In Abhängigkeit vom Schülergrad durchläuft der Übende unter-schiedliche Sektionen des Dan-Chi, die sowohl mit der rechten als auch mit der linken Hand aus der Grundstellung, dem IRAS, heraus trainiert werden. Inhalt sind im Wesentlichen die aus den Formen bekannten Hand- bzw. Armtechniken – vor allem die im Dan-Chi-Zyklus immer wieder vorkom-menden beiden Grundpositionen Tan-Sao (Arm mit Handfläche oben) und Bong-Sao (Schwingen-Arm) –, die als kontinuierliche Abfolge gemeinsam mit einem Trainingspartner in direktem Kontakt („Kleben“) und ständigem leichtem Vorwärtsdruck der Unterarme zu diesem sequentiell durch-geführt werden. Dabei ist anhand der verschiedenen Armtechniken des Wing Tzun das Geben und Empfangen bzw. Aufnehmen von Druckimpulsen und somit das entsprechende Erlernen von sensorisch, also über das (Körper-)Gefühl bzw. den Tastsinn gesteuerten Aktionen und Reaktionen entscheidend, was ein späteres Kämpfen auch ohne visuellen Gegnerkontakt ermöglicht [7].
Je weiter der Schüler in den Graduierungen der Basisstufe voranschreitet, desto umfangreicher und anspruchsvoller wird das jeweilige Programm im Dan-Chi-Bewegungszyklus. Zum einen nimmt in der chronologischen Abfolge von Angriffs- und Verteidigungstechnik die Anzahl der Schritte der auszuführenden Arm- bzw. Handarbeit zu, zum anderen kommt bei den beiden letzten Schüler-graden der Grundstufe zusätzlich noch die Schrittarbeit hinzu. Wendungen (45°) aus dem IRAS werden grundsätzlich zu beiden Seiten ausgeführt und folgen in ihrer Richtung gemäß dem Grund-satz „Arm- vor Beinarbeit“ (s. u.) stets der zuvor jeweils ausgeführten Armtechnik und bedingen somit eine entsprechende Koordination von gleichzeitiger Hand- und Schrittarbeit.
Wing Tzun-Theorie
Während des Studiums des Kung Fu bzw. im Laufe der verschiedenen Grade wird dem Schüler mehr und mehr bewusst, dass Wing Tzun mehr ist als nur reine Selbstverteidigung; es ist ein System. Mathematisch gesehen ist der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten – übertragen auf die jeweilige Konfrontationssituation: zwischen den zentralen Körpermittelpunkten der beiden Trainingspartner bzw. Gegner – stets eine Gerade. Genauso geradlinig und logisch funktioniert Wing Tzun; es gibt hier keine ausladenden, akrobatischen oder unnötigen Bewegungen, sondern es dominiert beim gleichzeitigen, koordinierten Einsatz von Arm- und / oder Beintechniken das Prinzip von der Ökonomie der Bewegung: der direkte Fauststoß (chin.: Kuen) oder Tritt auf eben jener gedachten Linie steht für diese Effizienz. Am besten wird diese Optimierung des Bewegungs- bzw. Energieeinsatzes insbesondere in den Kraftprinzipien, den Kampfprinzipien und den Merk-sätzen aus der Wing Tzun-Theorie beschrieben, die im Folgenden vorgestellt seien.
Die vier Kraftprinzipien des Wing Tzun lauten:
1. Befreie dich von deiner Kraft.
In einer realen Selbstverteidigungssituation bzw. körperlichen Auseinandersetzung soll man den Umständen entsprechend so ruhig und gelassen bleiben wie möglich, und versuchen, nicht unnötig angespannt (hart) oder verkrampft (starr) zu sein.

2. Befreie dich von der Kraft des Gegners.
Wenn die Kraft des Gegners im Kampf auf einen einwirkt, so nimmt man sie nicht (zu seinem eigenen Schaden) auf, sondern gibt dieser bewusst nach bzw. lenkt sie anhand der erlernten Wing Tzun-Techniken entsprechend ab / um (siehe auch 3. Kampfprinzip). Wichtig ist somit, dass man sich nicht auf eine reine Kraft-gegen-Kraft-Situation, also auf ein stumpfes (und meist auch sinnloses) Gegenhalten einlässt und insofern Druck nicht automatisch mit direktem Gegendruck beantwortet. Vielmehr wird die gegnerische Kraft anhand von geeigneten Wing Tzun-Techniken gegen den Angreifer genutzt, wie das nächste Kraftprinzip es beschreibt.

3. Nutze die Kraft des Gegners gegen ihn.
Wenn im Kampf die Kraft des Gegners auf einen einwirkt, so nimmt man sie ohne eigenen Schaden kontrolliert auf und führt sie dem Angreifer – gemäß diesem Prinzip zunächst noch ohne eigenen Krafteinsatz – wieder zu. Beispiel (aus eigener Sicht): Die Aufnahme der gegnerischen Kraft (Fauststoß) erfolgt ausgehend aus der IRAS-Stellung (s. o.) und Man-Sao / Wu-Sao-Position („-Keil“) durch einen Tan-Sao bei gleichzeitiger Wendung aus dem Schlag bzw. der Schlaglinie des Angreifers heraus. Ebenfalls zeitgleich leitet man – ungefähr vergleichbar mit einer gespannten Feder – den einwirkenden Impuls der gegnerischen Kraft durch die Drehung der Hüfte um etwa 45° (Wendung) und Ausnutzung der eigenen Körper-spannung in den anderen Arm weiter und führt nun mit dieser Bewegungsenergie einen Kuen (Fauststoß), Handflächenstoß oder Chan-Sao (Handkantenschlag) gegen den Angreifer aus.

4. Füge deine Kraft hinzu.
Im Beispiel zum vorstehend beschriebenen dritten Kraftprinzip fügt man zusätzlich zur aufgenommenen und umgesetzten gegnerischen Kraft nun noch seine eigene Kraft hinzu, so dass sich durch die Addition von Außen- und Eigenimpuls sowohl die Schlagkraft der eigenen Wing Tzun-Folgetechnik (in der Regel ein Fauststoß, Handflächenstoß oder Handkantenschlag) als auch die Schnelligkeit der ausgeführten Konterbewegung entsprechend erhöhen.

Die vier Kampfprinzipien des Wing Tzun lauten:
1. Ist der Weg frei, stoße vor.
Wenn der Weg zum Angreifer frei und dieser somit ungeschützt ist, so nutzt man diesen sich bietenden Freiraum sofort, und geht bzw. stößt unmittelbar in Richtung des Gegners vor.

2. Hast du Kontakt, bleibe kleben.
Wenn man mit den Armen und / oder Beinen Kontakt zum Gegner hat, so hält man diesen Kontakt nach Möglichkeit konstant aufrecht.

3. Ist der Druck zu stark, gebe nach.
Wenn die Kraft bzw. der Impuls des Angreifers zu groß ist, so gibt man diesem Druck bewusst nach, um ihn ins Leere laufen zu lassen, ohne jedoch den Kontakt zum Gegner bzw. die Kontrolle über die Kampfsituation zu verlieren.

4. Zieht der Angreifer zurück, folge.
Wenn der Gegner zurückzieht oder -weicht, so folgt man ihm, um ihm durch diese Aufrechterhaltung der Distanz keine Lücke und somit keine Möglichkeit für einen weiteren Angriff zu bieten.

Die Merksätze des Wing Tzun lauten:
 Arm- vor Beintechnik
 Nach Tritt kommt Schritt.
 Ist beim Lat-Sao, der (Frei-)Kampfübung des Wing Tzun, der Arm des Gegners innen, so ist der eigene Ellenbogen es auch.
 Ist beim Lat-Sao der Gegnerarm außen, so ist der eigene Ellenbogen es auch.
 Der Klügere gibt nach.
Insbesondere zum vielleicht simpel klingenden, aber umso wichtigeren letzten Grundsatz des Wing Tzun passt auch das folgende Zitat, das auch auf der Internetseite unserer Schule zu finden ist [2]:
„Der im Lebenskampf Erfahrene weiß: Gelassen nachgeben ist besser, als unbesonnen herauszufordern. Einen Fuß zurückweichen ist klüger, als blindlings einen Schritt vorzustoßen.“
(Lao-Tse)
Wing Tzun-Anwendungen
Der Schüler der Grundstufe wird im Wing Tzun-Training anhand entsprechender Übungen zur praktischen Anwendung auf die verschiedenen potenziellen Verteidigungssituationen ausgebildet. Wesentliche Unterrichtsschwerpunkte der Schülergrade 1 bis 4 sind in diesem Zusammenhang die Schulung des Körpergefühls, der Arm- und Beinhaltung sowie des Verhaltens gegenüber einem oder mehreren Angreifern. Dazu gehören Befreiungstechniken wie z. B. Hebel- und Lösetechniken zur Befreiung aus Hand- / Armhalte- und Würgegriffen, aus der Umklammerung oder aus dem klassischen Schwitzkasten. Weiterhin wird das richtige Schlagen in Form von (Ketten-)Faust-stößen, Handkantenschlägen, Schlägen mit der Elle oder Handflächenstößen, beispielweise im Rahmen des Lat-Sao, des Pratzentrainings oder am Pfeiler, vermittelt.
Dabei können sich im Kampf – vor allem in Abhängigkeit vom jeweiligen räumlichen Abstand zum Gegner – fünf unterschiedliche Distanzen ergeben, auf die das Wing Tzun-Kampfkunstsystem den Schüler im Unterricht mit Hilfe der in diesem Abschnitt vorgestellten Anwendungen situativ vorbereitet. Diese sind:

1. Tritt-Distanz (Bein / Schienbein)
2. Schlag-Distanz (Arm / Faust / Handfläche)
3. Ellenbogen- / Knie-Distanz (ziehen / gezogen werden)
4. Wurf- / Hebel- (Anti-Boden-)Distanz (kontrollieren)
5. Boden-Distanz (Arme / Beine – ziehen / kontrollieren)

Vor diesem Hintergrund wird im Wing Tzun auch die richtige Tritttechnik gelehrt, die z. B. durch einen geraden Tritt aus dichter Distanz, einen geraden Tritt aus weiter Distanz (Treten mit Kreuzschritt zur Überbrückung größerer Abstände), einen Tritt zur Seite oder einen Tritt nach hinten ausgeführt werden kann. Im Gegensatz zu Kampfsportarten des Budo beispielsweise werden Tritte im Wing Tzun in der Regel nicht höher als bis zur Gürtellinie bzw. zum Bauchbereich des Angreifers durchgeführt; die Ziele konzentrieren sich vornehmlich auf Schwachstellen wie Knie und Unterleib. Angesichts des Abstandes und der Ausrichtung zum Gegner erlernt der Schüler auch die richtige Schrittarbeit, z. B. Folgeschritte auf naher Distanz oder Wendungen in alle Rich-tungen, wobei stets der o. g. Grundsatz „Arm- vor Beintechnik“ zu beachten und anzuwenden ist.
Dank
Letzten Endes war es wie so oft eine Kombination mehrerer Einflussgrößen, die mich dazu bewegt haben, die Prüfung zum Assistenztrainer im Wing Tzun abzulegen: Zum einen mein persönliches Interesse an einer außergewöhnlichen Kampfkunst, des Weiteren meine kontinuierliche Ausein-andersetzung mit dieser Disziplin sowohl in praktischer wie auch in theoretischer Hinsicht, und schließlich neben positiven Rückmeldungen mein Entschluss, Wing Tzun so regelmäßig wie möglich und vor allem ernsthaft zu betreiben und somit längerfristig dabei zu bleiben.
Mein Dank geht an Sifu Andreas, das WU-SAO-Team sowie an alle Mitglieder der Kampfkunst-schule, denn von ihnen allen habe ich viel gelernt und lerne weiterhin viel. Gleichzeitig möchte ich all diejenigen ermutigen, die schon immer mal mit dem Gedanken gespielt haben, Wing Tzun auszuprobieren, ruhig einfach mal an einem kostenlosen, zu den jeweiligen Trainingstagen jederzeit möglichen Probetraining in Bremen oder Dörverden teilzunehmen, und dann zu schauen, ob Wing Tzun nicht auch dieselbe Faszination ausübt, die auch mich dazu bewogen hat, den Weg des Wing Tzun Kung Fu zu gehen.

Bremen, im Dezember 2015
Dirk Hottmann
Post Skriptum
Der Titel dieser Arbeit mag sich im ersten Moment vielleicht nach einem Kung Fu-Streifen, einer Kampfkunst-Dokumentation oder etwas Ähnlichem anhören, ist aber im Grunde aus einer einfachen (astrologischen) Tatsache heraus entstanden (mittlerweile ein Running Gag bei uns): eines Tages unterhielten wir uns nebenbei über Tierkreiszeichen, und dabei stellte sich heraus, dass der Sifu und ich das gleiche Sternzeichen haben, und so bin auch ich – wie andere Teammitglieder auch – „im Zeichen des Sifu“ geboren 😉
Quellenverzeichnis
[1] Wing Tzun: http://de.wikipedia.org/wiki/Wing_Chun
[2] Wing Tzun-Kampfkunstschule WU-SAO: http://www.wu-sao.de
[3] Tai Chi Tu: http://de.wikipedia.org/wiki/Taijitu
[4] Yin und Yang: http://de.wikipedia.org/wiki/Yin_Yang
[5] IRAS: http://de.pluspedia.org/wiki/IRAS_(Wing_Chun)
[6] Bernhard Moestl: „Shaolin – Du musst nicht kämpfen, um zu siegen“, Verlag Knaur, 2010.
[7] Dan-Chi / Chi-Sao: http://de.wikipedia.org/wiki/Chi_Sao

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